
Manchmal bin ich unausstehlich.
Mir tun alle leid, die dann mit mir zu tun haben müssen.
Nicht zuletzt ich selbst, die ich in mir feststecke. Da, wo es kein Entkommen gibt.
Von überdrehter Unruhe über Ungeduld mit mir selbst und meinen Mitmenschen bis hin zu lustloser Erschöpfung ist alles dabei. Und das meiste fühlt sich weder für mich noch für andere besonders gut
an.
Wie es dazu kommt war mir relativ schnell klar.
Ich bin in solchen Momenten schlichtweg unausgeglichen.
Aus der Balance geraten.
Das klingt irgendwie abgedroschen. Und was bedeutet das überhaupt?
Als ich mich mit dieser Frage intensiv beschäftigt habe, sind mir zwei eigentlich banale Punkte aufgefallen:
Gleichgewicht ist dynamisch.
Es ist kein statischer Dauerzustand, sondern wird immer wieder durch Ausgleich hergestellt – bewusst oder unbewusst. Wer glaubt, es ginge hier um die vielbesungene „Work-Life-Balance“ (oder „Life-Work-Balance“ für die, die finden, dass das besser klingt), wird gleich enttäuscht werden. Trotzdem möchte ich sie einmal für dieses Beispiel bemühen: Die allermeisten von uns üben eine Tätigkeit aus, die nicht immer gleich fordernd ist. Es gibt anstrengendere Zeiten und ruhigere Zeiten. Wenn zum Beispiel ein Projekt zu einem bestimmten Termin abgeschlossen sein muss, dann ist vorher meistens für einige Zeit Mehrarbeit angesagt. Die Welt steht nicht still, und wir sind mittendrin und müssen uns ständig anpassen. Das heißt, es gibt Zeiten, wo das Pendel in Bezug auf die investierte Zeit und Energie mitunter sehr weit in Richtung Arbeit ausschlagen kann. So weit so gut.
Und was passiert, wenn ein Pendel seinen Extrempunkt erreicht hat? Richtig, es schlägt um. Ganz von alleine. Und zwar genauso weit in die Gegenrichtung. Übersetzt in mein Leben heißt das: Auf Phasen großer Anstrengung muss im Anschluss im gleichen Maß auch Erholung folgen. – Logisch.
Logisch ja, aber nicht immer ohne weiteres umsetzbar. Vielleicht wartet schon das nächste Projekt und der Urlaub ist noch nicht in Sicht. Was dann passieren kann, kennen viele von uns auch: Wir fangen uns einen Infekt ein, brechen uns ein Bein oder der Körper streikt auf andere Art und zwingt uns damit höchst unangenehm zur nötigen Ruhe. Vielleicht nicht sofort, aber irgendwann meistens doch.
Das Pendel schwingt also auch ohne mein Zutun und nötigenfalls auch gegen meinen Willen zurück. Was in meiner Macht liegt, ist allerdings, wie weit ich es in eine bestimmte Richtung ausschlagen lasse. Wenn ich mir der Dynamik bewusst bin, kann ich regelmäßig prüfen, wo mein Pendel gerade steht, und falls nötig gegensteuern. Dabei kann jede noch so kleine Maßnahme helfen. Einen Tag frei nehmen ist undenkbar? Dann kann ich zumindest für regelmäßige Pausen sorgen, oder an einem Tag in der Woche früher als üblich Feierabend machen. Dadurch wird Geschwindigkeit heraus genommen und der größtmögliche Ausschlag wird kleiner.
Abstrahiert betrachtet bedeutet das, es gibt immer zwei Pole, zwischen denen unser symbolisches Pendel hin und her schwingt. Der Bereich, in dem wir uns wohlfühlen, liegt irgendwo im Mittelbereich zwischen den Extremen. Jeder hat einen individuellen Wohlfühlbereich, der sich in der Lage und Breite von dem anderer durchaus unterscheiden kann. Das Pendel steht nie still, und schwingt immer hin und her zwischen den Endpunkten. Dabei kommt es auch immer wieder im Komfortbereich vorbei. Je größer allerdings die Ausschläge in beide Richtungen werden, desto weniger Zeit verbringe ich im Wohlfühlbereich, und desto mehr Zeit „links und rechts“ davon.
Aber mal ganz ehrlich, Ausgleich findet nicht nur auf der Zeitachse und nicht nur zwischen Arbeit und „Freizeit“ statt. Damit sind wir beim zweiten Punkt:
Unausgeglichenheit kann zwischen vielen verschiedenen Polen entstehen.
Das macht es jetzt nicht gerade einfacher, aber es sind auch einige „Klassiker“ dabei.
Einige davon, mit denen mich mein Leben in letzter Zeit öfter konfrontiert, sind diese hier:
Neues und Veränderung gegenüber Beständigkeit und Stabilität. Ich bin grundsätzlich jemand, der viel Lust auf Neues hat und Abwechslung braucht. In letzter Zeit verändern sich manche Aspekte meines Lebens aber so rasant, dass ich gar nicht richtig hinterher komme. Es fühlt sich manchmal an, als ob mich mein eigenes Leben rechts überholt.
Geistige Aktivität gegenüber „Hirn ausschalten“. Nach beruflich anspruchsvollen Tagen bin ich ab und an total überdreht. Mein Gehirn macht Überstunden und löst sogar nachts Probleme. Wenn dieser Zustand zu lange anhält, ziehen die grauen Zellen das „Not-Aus“ und dann geht gar nichts mehr außer apathisch in die Glotze zu starren.
Körperliche Aktivität gegenüber Ausruhen. Ich brauche Bewegung und wenn ich sie nicht in ausreichendem Maße bekommen, werde ich unleidlich. Ich fange dann an, herumzutigern oder unter innerer Unruhe zu leiden.
Mit mir alleine sein gegenüber Zeit mit anderen. Ich bin sehr gerne mit Menschen zusammen und bin insgesamt sicher extravertiert. Wenn ich längere Zeit mit anderen verbringe, ohne dass ich mich zwischendurch zurückziehen kann, kann das aber auch an meinem Nervenkostüm zehren.
Einige dieser Beispiele kennst du vielleicht, und sicher beschäftigen dich noch einige andere.
Und was lernen wir jetzt daraus?
Einige praktische Tipps, die mir helfen immer wieder Ausgleich zu finden:
1. Lerne dich selbst besser kennen
Indem du dich selbst beobachtest, stellst du fest, bei welchen Themen dein symbolisches Pendel immer wieder zu weit ausschlägt. Du lernst die Grenzen deines Wohlfühlbereichs kennen und kannst schon viel früher mit viel kleineren Tricks erfolgreich gegensteuern.
2. Höre auf dich
Wenn du wissen willst, was dir jetzt gut täte, dann mache es dir leicht und frage die Person, die es wissen muss. Dich.
Nimm dir einen ruhigen Moment und frage dich: Was ist mit mir los und was brauche ich jetzt gerade um mich wieder auszugleichen?
Je besser du dich kennst, desto leichter findest du die Antwort.
3. Schaffe dir Standard-Strategien
Du merkst, es sind immer wieder die gleichen Themen? Dann lege dir kleine Standardmaßnahmen zurecht. Ich komme meinem Bewegungsdrang entgegen, indem ich jeden Morgen mit dem Rad zur Arbeit fahre. Wenn mich mal wieder die Veränderungswellen überrollen? Dann finde ich Stabilität in meinen Beziehungen zu geliebten Menschen und in kleinen Alltagsritualen, die mir gut tun. Regelmäßiges Meditieren hilft mir mein Gedanken-Karussel zu beruhigen.
4. Erweitere deinen Wohlfühlbereich
Neben den Maßnahmen zum Gegensteuern, um die extremen Ausschläge zu verkleinern, kannst du auch deinen Wohlfühlbereich erweitern. Die gute Nachricht ist: Du musst dafür gar nicht so viel tun. Bei vielen Themen geschieht das die ganze Zeit über sowieso automatisch, zum Beispiel wenn wir in neue Situationen und Aufgaben hineinwachsen. Je mehr Erfahrungen wir darin machen, desto sicherer und wohler fühlen wir uns.
Die unzähligen Pendel, die in uns schwingen, sind also nicht zuletzt auch unser stärkster Motor für Lernen und Entwicklung.
Mit etwas Übung lernen wir besser auf unsere Bedürfnisse zu hören und die Dynamik für uns zu nutzen. Zugegeben, das ist nicht immer ganz einfach. Aber es lohnt sich!
Und jeder Tag bietet unzählige Gelegenheiten zum Ausprobieren.
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